Gerät ein Pkw bei der Einfahrt in eine Ortschaft auf eine die Fahrbahn teilende Verkehrsinsel, weil der mit ca. 50 km/h fahrende Versicherungsnehmer durch die Bedienung des Autoradios abgelenkt war, kann sich der Versicherer dann nicht auf Leistungsfreiheit wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalles berufen, wenn weitere Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten des Versicherungsnehmers oder für eine gesteigerte Gefahrenlage nicht feststellbar sind.
OLG Nürnberg, Urteil vom 25. 4. 2005 – 8 U 4033/04 Kurzsachverhalt
Der Kl. hat die Bekl. aus einer Vollkaskoversicherung in Anspruch genommen. Zu dem Fahrzeugschaden kam es, als der Kl. beim Befahren eines übersichtlichen Straßenstücks auf eine in der Fahrbahnmitte liegende Verkehrsinsel auffuhr. Der Kl. hat behauptet, er sei durch die Bedienung seines Autoradios abgelenkt worden. Die Bekl. hat die Meinung vertreten, sie sei leistungsfrei, weil der Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt worden sei.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. hatte Erfolg.
Auszug aus den Urteilsgründen:
Die Bekl. ist auf Grund des zwischen den Parteien bestehenden Vertrags über eine Fahrzeugvollversicherung verpflichtet, dem Kl. Ersatz für die Reparatur der Schäden an seinem Pkw zu ersetzen, die dadurch entstanden sind, dass der Kl. am 1. 2. 2004 auf eine in Fahrbahnmitte befindliche Verkehrsinsel aufgefahren ist (§ 1 I VVG i.V. mit §§ 12 Abs. 1 II lit. h, 13 Abs. 1 AKB 2001). Die Bekl. ist entgegen der Auffassung des LG nicht gem. § 61 VVG von ihrer Leistungspflicht frei geworden.
Eine grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Kl., wofür die Bekl. beweispflichtig ist, lässt sich nicht feststellen. Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und auch subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen an die im Verkehr erforderliche Sorgfalt voraus; diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden sein und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Die Entscheidung hierüber ist unter Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalles zu treffen (BGH, NJW 1989, 1354).
1. Nach Auffassung der Bekl. handelte der Kl. grob fahrlässig: Für das Befahren des übersichtlichen Straßenstücks von 120 Metern vor der Verkehrsinsel habe dieser bei der von ihm angegebenen Geschwindigkeit von 50 km/h ca. 8,6 Sekunden benötigt. In dieser Zeit habe er offensichtlich die Fahrbahn nicht beobachtet, da er sonst nicht auf die Verkehrsinsel aufgefahren wäre. Dem kann nicht gefolgt werden.
Für den Nachweis der groben Fahrlässigkeit sind die Regeln des Anscheinsbeweises nicht anwendbar; allein aus der Tatsache des Unfalls kann deshalb nicht geschlossen werden, dass der Kl. grob fahrlässig gehandelt hat. Insbesondere lässt sich aus dem Umstand des Auffahrens auf die Verkehrsinsel nicht schließen, dass der Kl. während des gesamten Zeitraums, den er zum Durchfahren der übersichtlichen Straße benötigte, die Fahrbahn nicht im Blick behielt; es lässt sich nicht ausschließen, dass nur eine momentane Unaufmerksamkeit kurz vor der Verkehrsinsel zum Auffahren des Kl. geführt hat. Eine derartige kurzzeitige Ablenkung, die nahezu alltäglich vorkommt, kann zwar den Vorwurf eines fahrlässig begangenen Fahrfehlers rechtfertigen, aber nicht den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit; die im Verkehr erforderliche Sorgfalt wurde dadurch nicht in ungewöhnlich hohem Maße verletzt.
2. Selbst wenn man entsprechend der Erklärung des Kl. in dem von ihm unterzeichneten Schreiben an die Bekl. vom 8. 3. 2004 davon ausgeht, dass er vor dem Unfall „durch die Bedienung des Radios abgelenkt“ wurde, kann nicht angenommen werden, der Kl. habe den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt. Daraus lässt sich nämlich nicht herleiten, dass der Kl. den Blick erhebliche Zeit von der Fahrbahn abgewendet hat. Vorübergehende Unaufmerksamkeiten, also auch die kurzfristige Ablenkung durch das Bedienen des Radios, kann jedoch nicht zum Verlust des Versicherungsschutzes führen; damit würde die Vollkaskoversicherung ihren Sinn und Zweck verlieren. Eine Sachlage, wie sie der Entscheidung des OLG Nürnberg (NJW-RR 1992, 360) zu Grunde lag, nämlich dass der Versicherungsnehmer längerfristig – im dortigen Fall ca. fünf Sekunden – wegen der Bedienung seines Kassettenrekorders die im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt nicht aufwandte, hat die Bekl. im vorliegenden Fall gerade nicht nachgewiesen.
Da – wie dargelegt – für den Nachweis der groben Fahrlässigkeit die Regeln des Anscheinsbeweises nicht anwendbar sind, kann entgegen der Auffassung des LG nicht davon ausgegangen werden, dass „es nach der Lebenserfahrung ohne weiteres allmählich zu einem überzogenen Linkseinschlag mit der linken Hand gekommen“ sei, als der Kl. „eine nicht ganz unerhebliche Zeit seine Konzentration auf die Bedienung des Radios mit der rechten Hand gerichtet“ hat. „Zwangsläufig“ führt das Bedienen eines Autoradios nicht zu einem Verreißen der Lenkung (vgl. OLG Hamm, r+s 1991, 186). Überdies würde diese Annahme des LG voraussetzen, dass der Kl. zunächst verhältnismäßig weit rechts gefahren sein müsste, um allmählich über eine nicht ganz unerhebliche Zeit seiner Konzentration auf die Bedienung des Autoradios in den Bereich der Verkehrsinsel geraten zu sein. Diese Annahme ist indes nicht erwiesen.
Es sind auch keine Umstände ersichtlich, die für eine gesteigerte Gefahrenlage sprechen, so dass es als unverständliche Sorglosigkeit anzusehen wäre, dass der Kl. vorübergehend seine Aufmerksamkeit der Bedienung des Autoradios gewidmet hat: Die Fahrbahn war relativ breit und übersichtlich, die vom Kl. eingehaltene Geschwindigkeit von etwa 50 km/h nicht unangemessen. Eine Leistungsfreiheit der Bekl. wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Kl. kann also nicht bejaht werden.